Ethik, Inspirierendes, Pamphlete, Politik, Religion, Skeptizismen

Weiße Rosen. (Lesbare Denkmäler)

Sophie Scholl

„Nach einer längeren Debatte waren wir schließlich der übereinstimmenden Meinung, daß der christliche Mensch Gott mehr als dem Staate verpflichtet sei.“

Gestapo-Verhörprotokoll, 1943

„Beim Anblick der stillen Großartigkeit dieser Berge und ihrer Schönheit wollen einem die Gründe, die die Menschen für ihre unheilvollen Taten vorbringen, lächerlich und verrückt erscheinen, und man bekommt den Eindruck, sie wären gar nicht mehr Herr über sich und ihre Taten, sondern würden von einer bösen Macht getrieben. Denselben Eindruck hatte ich, wenn ich den großen Fabriksaal überblickte und die hundert Menschen an den Maschinen stehen sah, als gehorchten sie, selbst ahnungslos und unbewußt darunter leidend, einer Macht, die sie zwar selbst erschaffen, dann aber zu ihrem Tyrannen erhoben hatten.“

Brief an den Vater, 22. September 1942

„ (…) immer wieder schwankend, müder werdend, nicht mehr sein wollend, so daß ich mir nichts anderes wünsche als Nicht-Sein, oder als nur eine Ackerkrume zu sein, oder ein Stückchen einer Baumrinde. Aber schon dieser oft überwältigende Wunsch  ist wieder schlecht, denn er entspringt ja nur der Müdigkeit.“

Brief an Fritz Hartnagel, 22. Mai 1940

„Es ist der Kampf, den ich selbst führe, den Du auch haben wirst, nicht zurückzusinken ins Wohlbehagen, in Herdenwärme, ins Spießbürgertum.“

Brief an Fritz Hartnagel, 10. November 1940

„Ich wünsche Dir sehr, daß Du diesen Krieg und diese Zeit überstehst, ohne ihr Geschöpf zu werden. Wir haben alle unsere Maßstäbe in uns selbst, nur werden sie zu wenig gesucht. Vielleicht auch, weil es die härtesten Maßstäbe sind.“

Brief an Fritz Hartnagel, 16. Mai 1940

„Weiß ich denn, ob ich morgen früh noch lebe? Eine Bombe könnte uns heute nacht alle vernichten. Und dann würde meine Schuld nicht kleiner, als wenn ich mit der Erde und den Sternen zusammen untergehen würde. – Das weiß ich alles.“

Tagebucheintrag, 9. August 1942

(*)

Hans Scholl

„Ich muß meinen Weg gehen und gehe ihn gerne. Denn es kommt mir ja nicht darauf an, vielen Gefahren und Verlockungen aus dem Weg zu gehen, sondern es soll mir wahrhaftig nur darauf ankommen, die Dinge richtig und in aller Ruhe richtig zu erkennen. Doch bis dahin werden noch viele Stürme über das Dach meines Hauses brausen und es erschüttern. Ich will indessen meine Lampe anzünden, und wenn sie auch flackert und auszulöschen droht, so wird doch ihr Licht rot und warm und manchem einsamen Wanderer ein Wegweiser sein.“

Brief an Rose Nägele, 8. August 1941

„Ihr glaubt vielleicht, man müßte weiser und reifer aus dem Kriege zurückkehren. Dies ist nur bei ganz wenigen Menschen der Fall. Ich glaube, ich war vor diesem Wahnsinn innerlicher und aufnahmebereiter. Der Krieg wirft uns weit zurück. Man glaubt es nicht, wie lächerlich der Mensch geworden ist. Wir verlassen den Operationssaal, drinnen stirbt einer, und wir rauchen eine Zigarette.“

Brief an Inge, 1. August 1940

„Unsere Kompanie wurde vom Kriegsgericht dem OKW der Meuterei wegen gemeldet. Es entwickelt sich in unseren Reihe ein Denunziantentum abscheulichster Art. (…) Ich hatte nicht erwartet, daß die Masse auf die geringsten Drohungen so reagiert. Aber ich habe vieles gelernt.“

Brief an die Eltern, 12. Februar 1941

(*)

Christoph Probst

„Mein Leben war in der letzten Zeit recht doppelseitig, ich hatte einerseits unter einer geradezu beängstigenden wochenlangen Müdigkeitswelle zu leiden, so daß die wachen Stunden recht beschränkt waren. Dazwischen aber war ich recht tätig – medizinisch, russisch, lesenderweise, einkaufenderweise u.s.w. Es war dies geradezu notwendig, da mir in Mußestunden eine stille Verzweiflung ans Herz kroch. Aber eben eine „positive“ Verzweiflung, wenn man das sagen kann, denn sie erzeugte nicht Resignation, sondern Tätigkeit und Intensität.“

Brief an die Schwester Angelika, 4. Juli 1942 (95)

„Einmal muß das Menschliche hoch emporgehalten werden, dann wird es eines Tages wieder zum Durchbruch kommen. Wir müssen dieses Nein riskieren gegen eine Macht, die nicht nur alles Andersdenkende ausrotten will, die sich anmaßend über das Innerste und Heiligste des Menschen stellt. Wir müssen es tun um des Lebens willen, diese Verantwortung kann uns keiner abnehmen.“

1942, zit. n. Bernhard Knoop

(*)

Willi Graf

„Schwer ist es, daß man solchen Problemen immer allein gegenüber steht, kein anderer Mensch kann einem die Last von den Schultern nehmen. Jeder einzelne trägt die ganze Verantwortung. Für uns aber ist die Pflicht, dem Zweifel zu begegnen und irgendwann eine eindeutige Richtung einzuschlagen. (…)“

Brief an Anneliese, 6. Juni 1942

„Hast du schon einmal gesehen und verglichen, daß für viele Menschen diese Probleme, die uns bewegen, so gar nicht erregend wirken? Es gibt zwar Unterschiede in dieser Stabilität: Die einen besitzen tatsächlich die Weisheit, die ihnen Ruhe bringt, die anderen aber finden es zu anstrengend, sich damit herumzuschlagen und geben sich mit kleinen Fortschritten in ihrem persönlichen Leben zufrieden. Oft kann man sich wünschen, doch zu diesen „Zufriedenen“ gezählt zu werden, es wäre doch so einfach. Aber wir finden diesen Weg nicht, wenn wir uns auch noch so unempfindlich machen.“

Brief an Anneliese 25. Juni 1942

(*)

Alexander Schmorell

„Mein Haß gegen diese Menschen, und mit ihnen auch gegen dieses Land, wächst von Tag zu Tag. Wenn das so weiter geht, bin ich doch neugierig, wohin das kommen soll.“

Brief an Angelika Probst, 13.Juni 1937

„Sie sind froh und glücklich, wenn sie nach fremden Regeln leben dürfen, auf fremde Befehle gehorchen dürfen, um selber nicht denken zu brauchen, der Masse nachzugehen, folgend, ihrem Herdentrieb, um nicht zu irren.“ Die zweite, sehr viel kleinere Gruppe von Menschen nannte Alexander Schmorell die „Auserwählten,  (…) die es können, Neues uns Eigenartiges zu schaffen, die sich die Lebensregeln selbst zusammenstellen können und auch tapfer genug sind nach ihnen zu leben und die ganze Verantwortung auf sich zu nehmen.“

Brief an Angelika Probst, 1. Mai 1937, zit. n. Christiane Moll

„Denn nichts ist schöner, als die Freiheit des Gedankens und die Selbständigkeit des eigenen Willens, wenn man sie nicht fürchtet. Hier versucht man, uns sie zu rauben und sie uns vergessen zu machen oder sich von ihr zu trennen, aber das wird ihnen nicht gelingen.“

Brief an Angelika Probst, 1. Mai 1937

„Wie schön ist es dann, sich in ein solches Blütenmeer zu werfen, den dahin ziehenden Wolken nachzuschauen und von Vergangenheit und Zukunft träumen zu können. Aber solche Schönheiten verstehen die Menschen hier gar nicht; bei ihnen heißt es Tempo, Tempo, schuften, schuften, um einige Habseligkeiten zu erwerben, um nicht zuspät zu kommen. Ist das der Sinn des Lebens? Hier in Deutschland scheinbar schon, und deshalb hat hier das Leben auch keinen Sinn.“

Brief an Angelika Probst, 27. Juni 1937

„Was ich getan habe, habe ich nicht unbewußt getan, sondern ich habe sogar damit gerechnet, daß ich im Ermittlungsfalle mein Leben verlieren könnte. Über das alles habe ich mich einfach hinweggesetzt, weil mir meine innere Verpflichtung zum Handeln gegen den nationalsozialistischen Staat höher gestanden ist.“

Gestapo-Verhörprotokoll, 1943

Standard
Ironismus, Literatur, Philosophie, Religion

VII Sünden und Bibelstunden, oder Leichtigkeit und Gottesbeweise

Es wurde Weihnachten. Sie feierten, dass sie ihr Kreuzigen überlebten: diesmals das vierunddreißigste Jahr; und das achtundzwanzigste: Emma; und Kiri.
Aber das Christenheil, das sich in den Straßen erhängte und in Tannen, machte sie krank.
Kiri war gereizt. Uninspiriert ging er umher und räumte auf, obwohl Winter war.
Emma kochte Tee. Ihr wurde die Kunst wie zu einer Pflicht, die sie schon zu lange tat.
In der Mitte eines Nachmittags sprach sie sich an. (Sie versuchte es:) „Ich fühle mich“, sagte sie, zu laut für sich, in die Stille – auch gen Kiri, der las, „ich fühle mich verdrängt.“
Er antwortete sofort. Doch blind für sie. Schon lange trommelte er herum auf seinem Kopf unter den Armen. (Manchmal wunderte ihn das Wetterleuchten.) Er hetzte, mehr denn je, ohne zu wissen, wohin – oder weshalb – oder woher.
„Verdrängt!“, meinte er, „verdrängt –.“ Er schaute absichtlich nicht auf. „Vielleicht, wie wär’s, du siehst mal nach in deinem Unbewussten – nach dir. Oder frag Samuel. Oder… vielleicht Jasper.“
Er wusste selbst nicht, ob er im Scherz sprach.
Zumindest, halbwegs, im Schmerz: auf halbem Wege (in ihn hinein? Aus ihm heraus?). Vielleicht rannte er auch im Rand seines endlosen Echos, dessen Ursprung vergessen war. Vielleicht. Alles war vielleicht, und nichts genauso.

Doch nachdem Kiri die Worte verlassen hatten, konnte er nicht weiterlesen. Emmas Stimme hatte nach Hilfe gesucht (auch wenn sie nie nach Rettung Ausschau hielt – die Realistin).
Er spürte jetzt, was er eben ignoriert hatte – und wen – Emma – – und wie. Er hatte Ekel und Zorn schon seit Wochen gesammelt: es war der Dritte Advent.
Sein Blick blieb haften auf dem Buch. Er las die Bibel. Die Zeilen verschwammen erst, dann wurden sie weiß.

Emma hatte gezuckt. Kiri hatte sie angestoßen. Unter dem Tisch: nicht aus Versehen – aus Mangel an Sensiblem. Und sie war zusammengefahren. Verwundert, verwundet davon, wie erschreckt sie war wegen nichts, und nicht aus dem Nichts heraus.
Kiri kratzte sich das Knie. Dann stand er auf. Er vermied es, sie anzusehen – glotzte durch die Scheiben.
Er sah nur sich selbst.
Fadenscheinig standen die Bäume. Jemand erkältete sich gerade, dort draußen. Bestimmt. Vielleicht zum ersten Mal fühlte Kiri den Herbst (jetzt: im Winter). – Vielleicht zum letzten. Wer wusste das schon.
„Es gibt keine Ziele mehr“, sagte er, leise. „Denn wer sollte da Zielen?“ Er schüttelte etwas; wohl den Kopf. „Entschuldige. Das rechtfertigt… auch kein Fehlen.“
Sie brauchte eine Weile. Dann nickte sie (und brachte Harmonie in sein Schütteln. – In den Krampf seines Nackens). „Fehlen…“, wiederholte sie, nach einer Weile. „… daneben schießen.“
„Die Falschen treffen.“
„Es gibt nur die Falschen.“
Still stimmte er zu. (Kiri erwiderte nichts.) Er blickte noch immer den Baum an, den der Wind entlaubte.
(Immer noch?) „Fehlen.“
„Fehlen“, wiederholte Emma.
„Abwesend sein. In den Blättern hängen geblieben.“ Er wusste nicht, ob er nach draußen sah oder in sich. „Wo der Frost im Boden haust.“ Er schwieg.
„Mir ist kalt.“
„Mir… mir – mir ist auch kalt.“
„Komm zu mir.“ Sie gab sich einen Ruck – und einen zweiten – gegen alle Krämpfe. „Wir müssen nicht auch noch fehlen – ineinander.“
Er wandte sich um. Er blickte sie an. Er sprach ehrlich: „Ich will dich nicht verdrängen.“
Sie deutete ein Kopfschütteln an.
„Du bist bei mir. Mir wurde nur – von mir – aus mir selbst – das Ziel genommen. Nur.“ Sie schnaubte plötzlich – fast belustigt: „Die Realität ist ein Grammatikfehler.“
Kiri nickte. Sein Ernst wurde penetrant. „Motivik bleibt ausgesetzt. Kein Schütze hat überlebt.“
„Und also kein Schutz.“
„Es gibt… keinen Entwurf mehr.“
„Keinen Wurf“, meinte Emma.
„Ja.“ Er lehnte sich an den Rahmen des Fensters. „Ja. Ja.“
Es knarzte.
„Wir sind schon entworfen“, sagte Emma. „Jeder Drang, jedes… Zielstecken, jeder Wunsch, jedes Wollen ist nur… Verlängerung dieses Wurfs. Des Geworfenseins.“ Sie raunte plötzlich, ängstlich: „Alles ist passiv.“
Endlich trat er zu ihr. Er nahm sie in schmale Arme. Nichts bot so Schutz wie seine Haut und seine Knochen. Sie legten sich um einen, wenn nichts sonst half.
Emma kicherte ein wenig hinter seinem Ohr. „Ich pupse viel. – Ich will auch gleich wieder.“ Sie lachte sogar. „Denn ich esse. Doch… entschied ich mich nie für den Hunger.“ Sie holte tief Luft. „Wer entschied sich für all den Hunger? Was?“
Er seufzte, blieb ernst. Schon wieder. „Es gibt keine Entscheidung. Nur Gewordenheit.“
„Geworfenheit“, korrigierte sie. „Sie ist Unfreiheit.“ Ihr Gesicht wurde noch härter und dunkler als sonst. „Was ließ sich je verstehen?“
„Nun. Vielleicht… vielleicht ist Geworfenheit auch Freiheit. Oder ihr… Beginn zumindest. Wer weiß? Immerhin können wir eine Verbindung herstellen. Ha! – Mit unseren beschränkten Mitteln. Kontradiktion, Synonym, Tautologie, Kausalität. – Fremdworte. Alle Worte sind fremd. Und doch sind wir nichts als Worte. Es ist alles wenigstens – Korrelat. Freiheit, Unfreiheit – näher aneinander schon mal als… Freiheit und, meinetwegen – äh, Schuhbeläge.“
Sie lachten sehr kurz. „Wenn wir wollten“, sagte Emma, „könnten wir alles verbinden. Überall löten und schweißen und ineinander schmelzen und brennen. Doch… – alles Geworfenheit.“ Sie löste sich; begann, klein, ein Wandern. „Was immer das heißt. Es heißt jedenfalls, dass sich nichts je umwerfen lässt. Dass sich selbst nichts umwerfen kann. Dass alles umwerfend ist. Und dass nichts übrig bleibt, das sich verwerfen lässt. Nichts bleibt dem Willen. Alles ist Willkür.“
„Willkür.“ Kiris Blick wurde mit ihr unruhig. Er schweifte umher. „Es gibt keine Kur des Willens.“
„Verben haben sich verselbstständigt. Das sagtest du schon ganz am Anfang. Von uns, meine ich. Wir nehmen nun wahr. Wir können nicht mehr geben.“
Vor ihr lag die Bibel. Sie war zufällig vor ihr zum Stoppen gekommen. „Wenn du mich fragst, Gott ist eine scheiß Inspiration.“
„Gott ist das Wort. – Und mehr nicht.“ War er sich plötzlich einmal sicher? Natürlich, Kiri wusste es nicht. „Sprache ist religiös. Und Religion ist ein Zirkelschluss. Aus welcher Ecke soll da die Muße springen? Vier Mal dieselbe Story zeugt nicht von Beseelung durch Geist.“
„Vielleicht von heiligem.“ Fiel ab jetzt alles leicht. „Übersteigt uns schließlich. Gott ist unergründlich.“
„Nein. Wieder vice versa. Das Unergründliche tauften wir Gott.“
„Erster Gottesbeweis“, rief Emma plötzlich. „Es gibt das Unergründliche. Also gibt es Gott. Da wären wir! Warum weine ich Tränen, wo ich sie auch lachen kann?“ Emma lächelte. „Gott ist das Wort. Um genau zu sein: eines mit vier Buchstaben. Wird ausgesprochen: G-o-t-t. Und wir definierten es als das Unergründliche. Wer glaubt heute noch an Gott? Wir wissen, dass es… es gibt.“ Sie wurde wunderlich. Bald würde sie nach Spielzeughäusern fragen. Und schnell daraufhin: sie anmalen.
(Gerade konnte er es kaum erwarten.) „Ja, ja…?!“ Er schnippte. „Und der zweite Beweis? Nur Atheisten können Gott beweisen!“
Sie nickte. „Der zweite: wir fragen uns!: wer hat uns den metaphysischen Sinn einverleibt? Das heißt: den Wahn-Sinn? Antwort: Gott war es! Was für ein Teufel. Was für ein Fuchs!“
„Ja. – … einleuchtend. Illuminiert. Illuministisch. Gott hat uns mit dem Drang erschaffen, ihn zu erfinden. Zweiter Gottesbeweis!“
Emma lachte. (Sie lachte heute viel. Mehr als den restlichen Monat. Auch dies musste sich angestaut haben. Wie beruhigend.) „Und der dritte: Gott hat uns zu den zwei Beweisen seiner inspiriert. Es sind seine Beweise.“
„Ich kann dir noch folgen! Ein Geniestreich. Vierter Beweis also: er hat uns auch zum dritten inspiriert.“
Sie hob den Zeigefinger. „Fünfter! Er inspirierte uns zu einer Unendlichkeit an Beweisen.“
„Zu einem Perpetuum Mobile.“
„Zu einem ewigen Dominoeffekt.“
„Gott ist… einfach unglaublich.“
„Und doch ist er die Wahrheit! Ich meine – es. Es.“
„Es: das Verdrängte. Das ganze verdrängte Unverständliche.“
„Ein Über-Es.“
„Das Über-Es! Sublimiert. All der Haufen Unbeantwortbares ins… Kleid der einen Antwort. – Wer hat den Trichter erfunden? Wie hält die Dämmung? – Wo ist mein Spielzeughaus?“
„Keine Kirche in der Nähe.“
So belustigten sie sich.
Hinter jedem Lachen hauste der Weinkrampf. (Vor jeder Träne stand eine Mauer aus Gleichmut.)

*

„Das Suchen ist eine Sucht“, sagte Emma bald – unheilig –, am Heiligen Abend.
Kiri schmückte ihr gerade das Ohr mit Bio-Lametta. „Der Imperativ des Suchens“, nuschelte er. „–Sucht!“
„Tautologie, wohin das Auge blickt.“
„Wohin das Ohr horcht. Augen sehen nichts Gleiches.“
„Ich glaube, der Zufall ist schuld an allem“, – gähnte sie. Seit ein paar Wochen malten sie jeden Henker bunt an – und reichten ihm die Clownsnase.
War das alles ein Hoch oder ein Tief? Oder wie viele?
Zumindest würde der Gegenpart nicht lange auf sich warten lassen.
Emma schlug in die Hände. „Der schuldige Zufall! Ins Zuchthaus mit ihm! Kann sich auch an keine Regel halten!“
„Der Zufall! Er! – Ihm. … aus dem Missverständnis des Pronomens kam der Drang des Unterscheidens.“
„Und wie das Ganze ohne Ich?“
„Wir sehen es am Nichts, das heute Gott ausfüllt: es lässt sich alles zukleistern. Auch das Ich.“
„Nun?“
„Nun? Nun…“
„– Besitz! Objektbildung ans Subjekt, und schon ist das Ich ein Inhalt!“
„Wie gewichtig Phrasen werden können. Apropos Gottesbeweise. Das Unergründliche nannten wir Gott. Also kam das Unergründliche vor Gott.“ Er nickte überflüssig. „Es schuf Gott. Gott sei unverständlich? Aber freilich: dem Unverständlichen gaben wir ein Zeichen zur Hand: wir bezeichneten es – als – Gott. Wenn das Unverständliche existiert, existiert Gott. Also existiert Gott. Bewiesen. Nur woher kam das Unverständliche? Das heißt: woher kam das Warum? Und warum kam das Woher?“
„Worum? Wo herum?“ Sie küsste albern seine Hand.
„Woher kam der Wille zur Frage?“
„Um antworten zu können“ – antwortete sie. Sie lächelte – wie meist – heraus aus einer tiefen Verwirrung. (Verständnis war immer Oberfläche. In der Tiefe blieb alles dunkel. Quer und schief segelte ihr Mund durch das Unbegriffene; durch diese unverstandene Welt. Denn nur mit Gott wurde sie intelligibel.) Gerade aber hatte sich Emma dem Ziellosen anheimgegeben. Und also musste sie nirgends mehr suchen nach Unterschlupf. Ihr Lächeln – ein sehr seltener Anblick – war nicht einmal gebrochen. Nur fraglich. Es war nicht zurückhaltend und hilfesuchend. Es war bloß eine Wunde.
„Und die… Urfrage?“ – fragte Kiri.
„Der Tod!“
Kiri nickte. „Der Tod. Die Megametapher der Kausalität, die wir sind. Die Antwort, auf die man nie gewartet hatte. Noch immer nicht warten will. Sie kam vor allem anderen. – Welche Phrasen! Wie füllen wir sie?“
„Mit Hefe.“
„Wie viel davon… herumliegt im Metaphysischen.“
„Alles geht auf mit ihr.“ Emma grinste.
„Gott ist also… Nichts mit Hefe.“
„Das Nichts ist Hefe.“
„Gott ist Nichts und Struktur.“
„Wir glauben nicht. Wir wissen um sie beide. – Um es.“
„Das Nichts der Logik. Verdrängt. – All die Psychiatrien dank Logos!“
„Und nun?“
„Nun bin ich Gottesversteher.“
„Gottes Vorsteher.“
„Gottes Vorleger.“
„Keine Prostratio! Das gefährdet die Würde. Also – die menschliche.“
Sie besannen sich. Ironisch.

„Die Urfrage – der Tod“, griff Kiri wieder auf.
„Der Tod. Das heißt abstrahiert: der Wandel, den wir Zeit nennen.“
„Du abstrahierst den Tod! Die wie vielte Ableitung ist das jetzt?“
„Irgendwas im Negativen.“
„Der Wandel also der Ursprung?“
Er fuhr ihr über die Glatze. „Ja? Nein? Vielleicht?“
„Der Wandel zurück im Leben“, beharrte sie. „Er ist das, was wurde. Das, was ist. Die Manifestation. Das Anwesende. Das Gewordene. Das Sein.“ Sie wackelte mit dem Zeigefinger wie eine Lehrerin. Der Finger nahm sich selbst nicht ernst. „Das Sein aber ist der Grund dafür, dass Zeit stirbt und geboren wird: Werden und Vergehen. Und Werden und Vergehen sind beide nicht fassbar – nicht verständlich – nicht logisch. Wohin geht, was vergeht? Wie wird Werden und woraus?“
„Wir haben also neue Charakteristika Gottes. Neue… – oh. Das Nichts schon wieder!“
Emma nickte. „Was wohl Michael Ende gegen es hatte? Das Nichts ist der Grund der Fantasie! Ihre Motivation und ihr Fundament.“
„Gott ist die Negation – wie immer.“ Kiri resümierte: „Hier nun von Werden und Vergehen. Das heißt in diesem Fall, er ist ewig. Er setzt die Zeit Schach matt. Gott gibt es nicht nur schon ewig; er ist die Ewigkeit. Wenn er damit alleinsteht, ist er der Schöpfer. Wenn er kein Ausnahmefall ist, guten Tag Pantheismus. Oder… guten Tag Eternal Big Brother.“
Emma war müde geworden. „Gute Nacht, Kiri.“
Sie gingen zu Bett. Sie schwiegen für eine Weile.
„Andere lesen wohl gerade die Weihnachtsgeschichte.“
„Warum liegt hier Stroh rum?“
Nur zusammen konnten sie leicht sein.

Am nächsten Tag standen sie spät auf. Sie aßen altes Weißbrot mit zimtigem Quittengelee – und mit griechischem Öl. Aus großen Pötten tranken sie heißen grünen Tee. Draußen war es hell und kalt. Die Sonne schien weiter des Lichtes wegen, nicht der Wärme.
Kiri setzte mit vollem Mund an: „Ich habe nachgedacht.“
Er lachte.
Emma kümmerte sich heute nicht viel. Sie war einigermaßen ruhig; und genoss es.
„Der Zufall hat die Sprache erzeugt“, sagte Kiri. „Seither kriegt sie munter Kinder. Alles Inzest, also wenig Gesundes.“ Er schluckte. „Überall kommt der Mangel des Erstlings hervor. Meist nur genotypisch. So weit, so normal, die Krankheit. So weit so omnipräsent.“ Er schlug auf den Tisch. „Und schon wieder stimmt es, was sie über Gott sagen! Er ist nicht nur unergründlich und ewig, er ist auch allgegenwärtig!“
„Es.“
„Es“, pflichtete er bei. „– Marmelade und Öl, ein Genuss.“ Er schmatzte. „Was dichtet man Gott noch an?“
Sie zuckte die Schultern. „Dass er Dichter sei. Poet. – Allmächtiger.“
„Aber nein! – Nein. Nein, das können wir nicht machen, sie ist schon… zu gut“ – er spitze Finger zu Gänsefüßchen – „widerlegt. Der Allmächtige kann keinen Stein schaffen, der schwerer ist als der schwerste, den er heben kann: bla-bla. Mit anderen Worten: Gott ist hier zu gut bewiesen. Der Gegenbeweis vervollständigt das Wissen um Gott: jetzt kennen wir ihn ganz. Das Paradox ist eine 360-Grad-Perspektive. Quasi – objektiv.“
„Nein“, erwiderte Emma. „Wir brauchen nur 180: wir sind alle Dualisten. Insofern sind… 360 Grad Objektivität auch Allgegenwart.“
„Genau!“ Kiri nickte. „180!“ Kiri nickte von Neuem. „180…, – noch besser.“ (Kiri nickte heute viel.) „Das große all- und nirgends-, das immer- und nie- sind die ganze Metaphysik, die wir haben. Wir brauchen sie als Kit. Um uns ein Bild von der Welt zu machen: Raum und Zeit wären ohne sie undenkbar. Ohne Raum und Zeit aber können wir nicht denken, wie apriori es auch scheint. Drei plus fünf sind acht? Das ist ein Mechanismus, nämlich ein Schluss, aber wir sehen nichts vor uns dabei, wir verstehen nichts. Jedoch, wenn wir ihn lernen müssen, wenn wir verstehen wollen, fangen wir an mit dem Zahlenstrahl – mit Raum. Alles, was wir verstehen wollen und lernen müssen ist in Raum oder Zeit gebettet – jedes Bild der Welt. Die Ideen sind nicht im Urlaub auf Insel Transzendenz, Platon, sie sind näher an uns, als uns lieb ist. Um uns aber ein Bild von der Welt zu machen, dürfen wir uns kein Bild von Gott machen: denn sonst sähen wir, dass letzteres das Fundament des ersteren ist. Kurz, ohne Metaphysik keine Physik. Die Naturwissenschaften brauchen die Moral ihres Gottes. Denn, natürlich: sie sind nur Geästel; er ist die Wurzel.“
„Es.“
„Es! Und jetzt kommt der Gegenbeweis – Stein schaffen, Stein heben –, und zeigt uns, meta-metaphysisch, dass Gott alogisch ist. – Aber selbstredend ist er alogisch! Ja, – er ist die Alogik – innerhalb der Logik! Er ist Nichts, ganz und gar nichts für die Logik! Und daher ist er alles für sie! – Er ist, was sie ausschließt aus ihrer Betrachtung, um selbst weiter zu funktionieren. Also – mehr Beweis ist… endlich nicht mehr möglich, – – glaube ich.“
„– Unendlich.“
Kiri staunte sie an. Er machte sich nichts aus dem Desinteresse, das sie heute liebte. Er nickte und lachte noch einmal.
„Alles all- grenzt das all- zum nirgends aus, und, – und so weiter, alles in allem, Gott ist das ganze Alogische zusammengeworfen, und zusammen wird das Alogische dann ganz und alogisch zum Logischsten erklärt –“
„Wie in Mathe“, meinte Emma. „Minus und Minus –“
Kiri sprach weiter: „… und dieses Logischste“ (er malte erneut Anführungsstriche in die Luft) „– tauft man dann: Gott! Und – dieses Gott ist allgegenwärtig, allmächtig, und ewig. Es ist unergründlich. Und, freilich, wir sollen ihm bildnislos begegnen. Wir müssen ja auch! Gott existiert – als sprachliches Phänomen. Noch ein wenig Personifizierungen und Fantasy und Moral, und der graue Übermensch ist geboren: sein ganzes Reich ist unser Jenseits. Es ist weder größer noch kleiner. Gott ist dieses Reich. Gott füllt es aus und befreit uns so von der unvermeidlichen Lücke, der Leere, dem… Nichts der Semantik. Deshalb ist Gott auch allwissend: weil es ohne ihn kein Wissen gäbe! Er ist der Vermittler, der künstliche Klebstoff, der die zwei Teile des Wissens zusammenhält. Natürlich – anatürlich – ist er, was die Welt im innersten zusammenhält. Deshalb sei er auch die Liebe. Gott! Logik und Alogik, Schluss und Prämisse. Gott ist die hohle Brücke aus intellektuellem Pappmaché, die wir brauchen, um zu verstehen, um zu sprechen, um ans Wissen zu glauben. Und doch, je mehr Gott, desto weniger denken: Gott ist die Abwesenheit der Reflexion, er ist Maske, Fassade, Oberfläche – über dem logischen Abgrund. Logik überlebt nur schlüssig, als Logik, wenn man Gott nicht durchdenkt – und dahinter sieht: ins Nichts. Aber je größer Gott wird in uns und zwischeneinander, desto weniger Durchdachtes bleibt übrig. Daher die Warnung!: missbrauche nie den Namen Gottes! Lass ihn unberührt, lass ihn in den Grenzen der Lehrmeinung! Lass ihn in seinen Rahmen!“
„Es.“
„Mach dir kein Bildnis! Dein Weltbild würde sich auflösen, immer blasser werden, bald verschwinden!“
Emma schwieg.
Es muss berichtigt werden: sie war nicht desinteressiert. Sie genoss Monologe – sie genoss es, Kiri fließen zu lassen. Mit ihr als ironische Stromschnellen und Hindernisse.
„Gott ist eine prächtige Unterhalung“, sagte Kiri. „Eine lange Unterhaltung zwischen der unbeantwortbaren Frage und der universellen Antwort. Zu der er überleitet. Als die er sich gibt.“
Er nickte emphatisch – vor allem sich selbst zu. „Aber seien wir mal… nicht spaßig. Das Nichts der Logik ist Unsinn: Unsinn verstehen wir nicht. Ewigkeit und Unendlichkeit genauso wie ihre Antipode, die Begrenztheit – sind Unsinn. Sie sind nicht logisch erfassbar: Ewigkeit? Nein. Unendlichkeit? Nein. Eine Grenze von Zeit oder Raum? Nein. – Was wäre dahinter? Wo verliefe die Kante? Woraus bestünde sie? – Sie sind unbeantwortbare Fragen – alogisch. Denn jede Antwort auf sie wäre logisch unmöglich. Kurz, sie haben nicht zu viele mögliche Antworten, sondern zu wenige, und zwar genau genommen nicht eine. Nicht eine logische, nicht eine, die uns entfernt plausibel klingt. Nicht eine, die nicht sich selbst widerspricht. – Dagegen – Gott! – – ist nicht nur Unsinn. Er ist Irrsinn. Denn er ist das Wort: er ist G-o-t-t, er ist das Massenverkleiden des Unbeantwortbaren als Antwort. Er ist linguistischer Karneval. Aber das Unergründliche, das wir Gott tauften, ist auch das Grundlose. Kurz: wir wissen, es gibt Unergründliches! Es gibt Grundloses. Es gibt Alogik. Das heißt: es gibt Gott! Und zwar, nun, quasi nur einen – weil er die Summe des Unergründlichen ist.“ Er kicherte hysterisch. (Kiri? Gott?) „Gott ist alle Paradoxien in einem Paket. Und Paradoxien sind nicht Feinde, sondern Freunde der Logik. Hör sie dir mal an, die logischen Nichtse, und nimm Worte wörtlich: nirgend-wo. Nie-mals. Über-all. Aber – wo ist nirgends? Wann war das Mal, das nie ist? Und wo ist das, was über allem ist? – Wir haben, um die Sprache zu retten, allen internen Widerspruch zum… Scheinverständnis verwandelt. Zum Verstandenen umdefiniert. Es Gott genannt. Also ist Gott das Wort, freilich – ein Wort, so viel und so wenig wie jedes beliebige andere. Und wenn wir jemanden fragen: warum lebst du, und der andere antwortet: wegen Gott! – warum sagt er nicht – wegen Lampignon? Wegen Holzbein? Wegen Radieschen? Ein Wort ist keine Antwort! Ein Wort ist ein Wort, und damit – Punkt! Punkt. Gott aber, so lautet seine Ausrede, die, die… ins Aus hinein redet, – ist das Wort. Ob ich also an Gott glaube? Aber nein! Ich weiß um Gott! Allein, dass die Frage gestellt werden kann, ob ich an G-o-t-t glaube – beweist, dass G-o-t-t existiert. Als Sprachphänomen. Als Logikbehelf. Als Kommunikationsbasis. Als Physikfundament. Als… Stütze unserer Vorstellung des Realen als Raum-Zeit-Kontinuum.“ (Er schnaufte nur kurz durch, dann ginge es weiter:) „Denn individualempirisch gibt es Zeit nicht. Und Raum wirkt unendlich. Und Gott findet… da keinen Platz mehr. Wollen wir aber von Naturgesetzen und anderen Paragraphen und Verständnissen reden, von Begriffen und ihrem Begreifen, dann brauchen wir – Gott, dann existiert Gott deshalb. Er ist eine utilitaristische Unausweichlichkeit. Und also muss ich als Atheist gegen das… Jura der Naturalisten sein und gegen… die hermeneutischen Parameter und gegen Sprache als Funktion. Denn ich bin Atheist, weil ich Möglichkeiten will statt Gewissheiten, weil ich Demokrat bin statt Ochlokrat. Und deshalb lache ich die… Konklusionisten aus: weil Schlüsse nicht nur Enden des Denkens sind, sondern Gott brauchen zwischen sich und der Sprache, aus der sie kamen: sie brauchen Gott, um sich ins Verständnis umzudefinieren. Bis dahin waren sie nur – wie wir alle – du sagtest es – Gewordenheit. Kontingent. Dagegen!: Gott ist allgegenwärtig. Ewig. Unvorstellbar, allwissend, allmächtig, das heißt, kurz und gut: gut. Er ist gut, weil notwendig für unsere Logik, und also für unsere Identität: für unsere Existenz, unser Bewusstsein, unsere Anwesenheit. Sie alle wären undenkbar ohne Auffüllung des… semantischen Nichts, der Leere, der Lücke, der… Fundamentlosigkeit. Ohne Alogik undenkbar genauso, wie als Alogik undenkbar. Wir sehen, Logik kann sich selbst widerlegen – und damit ihre eigene Widerlegung. Somit: alles schwebt! Alles fällt. – Nihilismus ist Realismus!“ Er machte eine Pause für die Endsentenz. Er war ganz in seinem Tun. Dann sagte er: „Enden wir mit dem ersten Fehlschluss für heute. Gott ist ein Ideal. Ideale sind Illusionen. Ideale sind Schwachpunkte, ohne die wir keine Stärke kennen würden. Nur der Idealist kann konsequent sein – denn nur er hat etwas, worin, wofür er Konsequenz zeigen kann. Inkonsequenz stimmt überein mit der Basis unserer Reflexionen und Reflexe. Konsequenz wäre naiv. Ein Leben der Inkonsequenz ist richtig. Das sagt uns nichts und alles. Denn, wir sehen, richtig und wahr und gut basieren auf Logik. Aber Logik kann nicht ohne Alogik. Das heißt nicht, dass sie alogisch ist. Vielmehr, sie ist wie der Mensch – der nicht vom Affen abstammt, sondern den Vorfahren mit ihm teilt. Die Logik stammt aber nicht von der Alogik ab. Sondern von der Kontingenz. Wir brauchten die Alogik, um eine Logik aus dem Zufall zu formen.“ Er lachte. „Damit haben wir heute eine… darwinistische Wende für die Logik vollzogen.“ Er lachte absurder. „Wir haben die Logik aus dem Göttlichen zurückgewiesen, wo sie nichts verloren hat, und wieder menschlich gemacht, also nicht nur fehlbar, sondern – falsch. Denn darin ist das Menschliche. Im Falschen. Mit Gott stirbt auch der Menschensohn und damit der Mensch als Konzept. Gottes Tod aber lässt sich nur beweisen, indem man Gottes Existenz beweist – das heißt seine eigene Gewordenheit. Und das geht nur als Atheist, denn für den Gläubigen muss Gott etwas Ursprüngliches sein. Ohne Irrsinn hätte sich kein Sinn bilden können, der nicht unsinnig bleibt. Irrsinn ist Fantasie und Lüge und Sprache. Wir also sind… dahin zurückgeworfen. Und da müssen wir auch anfangen.“
„Wir?“
„Es?“
„Plural. Esse…“
Emma pupste. „Esse. Imperativ. Was entschied sich für den Hunger?“

Kiri las sein Tagebuch. Er lag ausgestreckt auf dem Bett – wie auf einem komfortablen Kreuz. (Er hing horizontal.) Er schrieb nur eine Zeile für heute:
So, we see. It was by accident that we proved God. (Everyone has his or her little pathetic obsession at times. Mine currently is – God…)
Emma las seine Notiz.
Sie lachten noch ein wenig, bevor sie einschliefen.
Aber nur ein wenig.
Sie waren gerade leichter, als sie es jemals hatten ahnen können.

Aus SIE TRUG IHN von Lukas Meisner

Standard