Freundschaft
Was ist Freundschaft? Freundschaft ist Heimat beieinander, miteinander. Freundschaft ist Scherenhändelosigkeit, Freundschaft sind offene Arme, Freundschaft ist Können-Können, Dürfen-Dürfen, Freundschaft ist Bewegungsfreiheit in Hirn und Herz. In der Freundschaft darf ich ich sein, es bedarf keiner Verstellung, keiner Künstlichkeiten, keiner Zensuren, keiner Umwege. Die Freundin verletzt nicht, weil sie nicht verletzen will: Freundinnen wollen einander, sie sind interessiert, sie bejahen sich, sie sagen: ich will, dass du wächst, will, dass du größer wirst. Bei der Freundin darf gefallen werden – keiner muss hier gefallen. Was teilen Freundinnen? Ihr Wohin. Keine Identitäten, sondern die Möglichkeiten zu mehr, zu sich: hier darf die neue Praxis leichter werden, sich einüben, solche, die außerorts unmöglich wäre: hier darf Überwindung überführt werden ins Handeln, aus dem Tun des Denkens heraus ins Gefühl, ins Umsetzen selbst. Weil hier Können-dürfen ist, Dürfen-können, denn Können ist Dürfen, da Dürfen Können ist. Weil hier Jasagen ist zu allem Wohin, das uns näher kommt, zum Ausprobieren, Scheitern, Wagen, zur Konfrontation, zum Verlust, zum Weitermachen: darüber hinaus. Freundschaft ist Praxis zum Selbst. Freundschaft ist Analyse des Systems rings, der Gewalt, der Verunmöglichung, der Feindschaft, und damit ist sie: konsequenter werden, authentischer, trotziger, selbst-bewusster, erfahrender. Freundschaft ist der einzige unmetaphysische Ort der Gewissheit: „ich weiß, dass du darfst bei mir; ich weiß, wie viel du willst, und dass du gut sein willst; ich weiß, dass du stark bist und schön; ich weiß, dass wir mehr können als wir sind, und dass wir also mehr sein können; ich weiß um Möglichkeiten; ich weiß, dass ich dir vertrauen kann; du weißt, dass du mir vertrauen kannst.“ Freundschaft ist die Basis, die selbst Schlachtfeld sein kann, ohne dass sie berührt wird, ohne dass es je um sie ginge im Streit: Freundschaft ist der einzig sichere Boden. Die Epistemologie der Freundschaft ist die einzige, die kein Wille zum Wissen ist, sondern die Wille ist zueinander, zu sich, zum Potenzial, zu mehr, zum Darüberhinaus, zur Utopie. Freundschaft und ihre Epistemologie sind das Fundament, auf dem das Leben seinen wackligen Turm errichten kann, von dem es ins Mehr aufbricht, auf dem das Ich sein Wagnis schichten darf. Mit ihnen ist keine „Philosophie“, keine Liebe zur Wahrheit mehr nötig: mit ihnen als Grund kann sich den Zwangsneurosen und Konditionierungen und Phobien gestellt werden. Mit ihnen als Grund sind alle hoffnungslosen Kämpfe, alle Ent-Täuschungen, alle Absurdismen überlebbar. In Freundschaft lässt sich leben: Freundschaft ermöglicht, so viel richtig zu leben wie irgend möglich im falschen. Doch Freundschaft ist Exil, ohne flüchten zu können. Freundschaft richtet sich durchgängig, durchtränkt gegen das falsche Leben: gegen System (Totalität), Verunmöglichung (Prinzip), Xenophobie (Strategie) und Scherenhandlung (Methode). Freundschaft ist – ohne Taktik zu sein, wesentlich – Anti-Gewalt. Freundschaft ist auch Politik. Nur Elternliebe als Elternliebe ist bedingungslos. (Eltern können außerdem Freundinnen sein.) Die Klimax der Freundschaft aber ist grenzenlose Bejahung, grenzenloses Einander-Wollen. Der Körper wurde vom System zu einer Hauptgrenze deklariert. Freundschaft kennt keine Grenzen. Vielleicht bedeutet Freundschaft sogar, auf Liebe verzichten zu können, oder dahin zu gelangen, oder dahin wollen zu können: miteinander.
Polyphilotesie
Polyamorie, wie wir sie verstehen, ist die Konklusion klimaktischer Freundschaften. Ihr Amor hat nichts am Hut mit Pfeilen und anderen Gewaltmitteln. Er lässt frei, er legt Herzen offen, statt sie abzuschießen, festzupinnen. Selbstredend ist Amor geschlechtslos. Freundschaften wird ihre Klimax systematisch systemisch verhindert im Verunmöglichungskontext der Gesellschaften, wie alles jedem Selbst systematisch systemisch verunmöglicht wird. Weil Freundschaften nichts müssen, müssen sie auch nicht körperlich sein: aber sie dürfen indes alles, wenn sie wollen. Auch ist Körperlichkeit ein politisch kritischer Bereich für jedes Selbst, die Gefahr nämlich von Hierarchie, Spiel, Gesetz (: von Mechanik). Das Arreal des Wollenkönnens auszudehnen, ist andererseits eines der erklärten Ziele des Selbst und des wirlosen Wirs ichloser Iche, also der Freundschaft. Polyamorie hierbei ist wie Reisen: es lässt sich auch zu Hause bleiben, wenn man schon die Welt sah und weiterhin vorhat, sie zu sehen, das heißt wenn das Haus ein Hausboot ist und beweglich und wenn sein Anker lösbar ist und meist nicht im Grund stakt. Die Polyamorie fragt nicht nur „wie“, nicht nur „was“, sondern auch „ob“ – Liebe. „Ob Liebe“ ist eine der wichtigsten politischen Fragen der Moderne (und wir befinden uns in der Moderne, wer anderes behauptet, versteht den Begriff nicht). Das Poly der Polyamorie zerreißt den alten Amor, sie tötet ihn schmerzlos, und der neue ist ungewiss, mehr ungeboren als Gespenst, gänzlich Kind der jeweiligen Beziehung, gänzlich individuell, so individuell wie die zwei Individuen der Beziehung. Dergestalt ist wenigstens das Ideal, und Freundschaften als Dürfen-Dürfen, Können-Können sind eben gerade nicht Idealisierung der Realität, sondern Realisierung der Ideale, womit Amor neu wird, also ein anderer. Freilich muss Polyamorie auch nicht stets Polyamorien sein; sie ist lediglich die Offenheit dazu.
So viel, so vieles scheint außer-ordentlich sicher. Nun zurück in die Normalität der Fraglichkeit. (Die Sicherheit lässt übrigens oft dann nach, wenn einem durch sie paradoxerweise Gefahr drohte. Das ist vielleicht ein Gesetz, also bleiben wir hier unsicher…)
Vielleicht aber ist auch die Fraglichkeit des Folgenden dem Bisherigen äquivalent, jedoch die Sophisterei häufiger, womöglich bloß offensichtlicher, wahrscheinlich lediglich neuer, erfinderischer oder aber schematischer, was nichts einen Abbruch täte, vielleicht vielmehr Anfang wäre. In jedem Falle: gegen Sophisterei ist weniger einzuwenden als gegen Fakten, und es stellt sich nur die Frage, wohin sie uns führt – nicht, ob sie stimmt.
Auf der Straße nun mögen sich Heteros und Homos antreffen lassen, aber keine Polyamorien: in der Tat ist der neue Amor, wenn, so weiblich, denn schließlich ist sie Amicitia oder Philotes, und Polyamorie ist eigentlich, wenn wir so wollen, Polyphilotesie. Dass der Gott der Liebe männlich, während die Göttin der Freundschaft weiblich ist, sollte allen Männerfreundschaften zu denken geben, gleichermaßen allen, die in klassischer Liebe oder ihrer Befreiung einen Angriff auf das System sehen. Polyamorie dagegen garantiert, dass nichts in der Nähe der neuen Liebe ist, das nicht grenzenlos ist: vielleicht ist Liebe intern gerechtigskeitsfanatischer als Freundschaft? Polyphilotesie zumindest lässt uns an dieser Stelle mit oder ohne Hausboot zurückrudern dahin, dass die einzigen Grenzen der Freundschaft die Horizonte hinter den Grenzen der Freundinnen sind, und Freundeshorizonte bewegen sich, denn Freundinnen bewegen sich, denn Freundschaften sind Bewegungsfreiheit, und Selbste sind bewegt.
Monovenusie
Das verheißt: Freundschaft ist Politik, und in Freundschaft ist Politik möglich. Was ist Politik? Politik ist, wenn Bedürfnisse, Interessen, Dringlichkeiten, Prioritäten, Entscheidungen, Positionen sich absprechen, sich Wege schaffend im Lichte dessen, die Bedingungen der Politik zu wahren bzw. zu schaffen: Gewalt zu minimieren, zu beseitigen, zu bekämpfen. Dieses Licht ist der Wille und der Wille zum Wille, also zum Wollenkönnen und Könnenwollen; ohne ihn ist Politik nicht möglich. Wenn wir so wollen: er ist die Rationalität des Lebens oder das Axiom der Politik des Selbst; von ihm leiten sich alle Politiken ab. Politische Entscheidungen werden politisch somit in Freundschaften entschieden. Außerhalb ihrer kämpft man um die Ermöglichung zur Politik: dieser Kampf freilich ist damit politisch im stärksten Sinne; in Freundschaften findet Politik statt, denn nur in ihnen und als sie hat sie gesiegt. Als sie beginnt die Drastik der Sensibilität, d.h. die Kommunikation, aus der Sprachlosigkeit, gen Selbst-Redendes, gen Selbstbe-Stimmung. Weil hier Politik stattfindet, sind die Ergebnisse offen – mit Ausnahme des „Lichtes“, mit Ausnahme der Bedingungen zur Politik, die stets aufrechterhalten werden.
Damit widerspricht Monovenusie der Polyphilotesie nicht, sondern ist die Ernstart einer ihrer Freundschaften. Sich auf die Freundinnen und vor allem auf sich und sich mit ihnen beziehend mag es keine oder eine oder vielerlei gelebte Sexualität(en) geben. So oder so oder so, das Individuum, mit dem keine körperlichen Grenzen gewollt sind, und mit dem es daher keine gibt – mit ihm bewegt man sich auf die neue Liebe zu: diesen Amor gebiert man zu zweit, und jener Amor entscheidet, wie Venus gelebt wird, solange besagter Amor lebt. Im übrigen ist Polyamorie stets Zweisamkeit, eben meist mehrfache Zweisamkeit, und die Möglichkeit zu mehr Lieben als einem. Polyamorie wiederum geschieht in der Polyphilotesie – doch Liebe kommt und geht durchaus, falls nicht institutionalisiert: sie ist eher an den Moment gebunden als ans Individuum, sie ist euphorisches Moment, und nur selten ident mit Beziehungen. Grund und Boden auch hier, auch bzw. gerade der Monovenusie, ist die Freundschaft, sind Freundschaft, Selbste, Wollen, Politik. Selbst-redend kann Venus nur in der Heimat einziehen.
Monovenusie zur Liebe hin
Monovenusie zur Liebe hin ist ein Zusammensein, in dem alle Schwierigkeiten sofort angegangen werden müssen, wo absolute Ehrlichkeit notwendig ist, damit das Zusammen nicht auseinandergeht. Man lernt also, dass Probleme keine sind, sondern dass sie Schwierigkeiten heißen, und dass jede Schwierigkeit augenblicklich Beachtung verdient, und dass alles Hinauszögern nur weiteres Beschweren der Schwierigkeit wäre: man muss das Wegsehen, Ignorieren, Aushalten verlernen – ein auch politisch essentieller Prozess. Weil Sexualität eine Schwierigkeit ist fürs Selbst (da die Gesellschaft so schwer zu verbannen ist aus ihr) und weil Schwierigkeiten einem undurchführbar werden in einem Kontext, in dem von einem weggesehen, in dem man ignoriert wird, weil dergestaltes Aushalten kurzum zusammenbricht im Selbste-Sexuellen, deshalb zusätzlich ist Angehen der Schwierigkeit unumgänglich für Monovenusinnen. Es erübrigt sich von selbst, dass Intuitionismus und Instinktismus somit verbannt sein müssen aus allem gen Liebe, doch schon für jedes Selbst; und damit aus aller Freundschaft. Da die Grenzenlosigkeit der Monovenusinnen weiterhin keine Illusion ist – denn nichts anderes als die Grenzenlosigkeit rechtfertigt im Polyphilotesischen, monovenusisch zu leben – wird auch das Vermissen ein gesundes, nämlich eines des autonomen Brauchens, der Freundschaft selbst, der Freundschaft von Selbsten, was der Beweis gegen die Projektion ist, falls es dergleichen gibt. Gesundes Genießen aber ist entscheidend für die Möglichkeit zur Einsamkeit. Und indem Heimat gefunden wurde für Körper und Hirn und Herz, für Trieb und Wille und Bedürfnis, so wird Einsamkeit überall sonst möglich, so wird ihr die vielleicht meistmögliche Zeit zugeschrieben: schließlich, ohne Selbst kein Zusammensein; Zusammensein nämlich erfordert zwei; und ohne Einsamkeit kein Selbst. (Fortsetzung folgt.)
Freundschaft
Polyphilothesie und Monovenusie
Damit überwindet sich Geist auf Basis der Freundschaft und ihres Fallendürfens im Überall, und seine Umsetzung findet er in den Freundschaften selbst, körperlich aber am tiefsten und wichtigsten in der Monovenusie. Insofern diese wiederum auf Freundschaft fußt, fußt sie auf der einzig unmetaphysischen Gewissheit, und fußt sie als Politik, in Theorie (eigener Kopf) wie in Praxis (Handeln vor- und miteinander). Sie darf dieses Fundament nie vergessen oder verleugnen: denn ohne es fällt sie zurück ins heterosexistische Patriarchat des Monogamismus. Das heißt, sie muss täglich um dieses Fundament kämpfen: die Arbeit im Verunmöglichungskontext des Systems heißt Kampf. Die Schwerkraft zurück in die alten Mechanismen und so unterhalb ins Jenseits der Bedingungen zur Freundschaft nämlich ist der leichteste Köder fürs unbewusste Sein. Dagegen der Wille zum Wille, die Selbstbe-Stimmung – und das Dürfen des Bedürfens, die Heimat namens Freundschaft: diese zwei Exilitäten sind in zwei Selbsten, aus ihnen und für sie. Das Selbst ist Kampf, weil es kämpfen muss, um Selbst zu werden und um es bleiben zu können, also mehr Selbst zu werden. Kurz, das jeweilige Selbst ist es, das gestärkt werden muss, damit Beziehungen keine Faschismen werden – der Kampf ist es. Genau solches Beziehen aufeinander und solcher Kampf nach außen, solche Arbeit nach innen sollen Freundschaft, Polyphilotesie und auch Monovenusie sein. Letztere scheint hier gewiss am gefährlichsten; aber damit ineins auch am hoffnungsvollsten für die hartnäckigste Systemheit in uns, die kein Selbst allein brechen kann, die Kampf des Selbst auch nach innen erfordert: gegen die Mechanisierung des Körpers, gegen die Konditionierung der Lust und des Verlusts, des Versagens, Verstoßenwerdens und der Isolation – gegen die Konditionerung auf Angst, die Konditionierung der Anerkennung. Erst, wenn Monovenusinnen Freundinnen sind und ganz Dürfen und sich vertrauen und keine Furcht vor Fehltritt, Verrat, Tun oder Handeln, schwindet damit die Gesellschaftlichkeit des Monogamismus. Erst, wenn die Einsicht gereift ist, dass Verlustangst außer gegenüber Thanatos nicht berechtigt ist unter Freundinnen, erst dann ist Freundschaft ganz angekommen im neuen Amor, und erst dann wird Venus nicht mehr vom System zerschattet. Dahin zu arbeiten, überhaupt zu arbeiten gegen die Entfremdung, ist Politik im emphatischen Sinn. Und nichts ist Arbeit im Entfremdeten als Arbeit gegen das Entfremdete; nichts ist Arbeit im falschen Leben als die Arbeit hin zum richtigen; nichts ist Arbeit außerhalb der Freundschaft, innerhalb der Verunmöglichung, als Kampf. „Gen Liebe“ zu sein bedeutet insofern nicht zuletzt, wegzukommen vom Ideal klassischer Liebe. „Ich liebe dich“ zwischen Freundinnen kann neben Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit nur heißen: ich sage dir meinen Willen und ein Wohin meiner, und zwar jenes einzige Wohin, das in meinem Testament nichts zu tun hat, weil es nur uns gehört und nicht dem Rest der Menschheit, im Gegensatz zu meinem ganzen Rest, und zu deinem. Freundschaft also ist nicht zuletzt, vielleicht zuerst ein Kampfbegriff, weil sie Gewaltlosigkeit bedeutet in einem System systematischen Gewalttätertums, und weil sie dessen Verunmöglichungskontext bekämpft und die Bedingungen schafft, die jedem Kampf unterliegen – ohne die also jeder Kampf bereits ein Unterliegen wäre: die Bedingungen durchhandelter Überwindung, die Bedingungen des Selbst, die Bedingungen der Heimat, in der Trieb, Wille und Bedürfnis einen gemeinsamen Weg finden können, der so ihrer wird, und sie mit sich vermählt, womit erstmals Selbstbejahung in Selbstliebe übergehen darf. Die völlige Realisierung dieses Ideals und der übrigen freilich steht unter Vorbehalt des Systems: so lange es ist, wird sie nicht sein. So lange das System bleibt, wird auch oder vor allem Selbstliebe eine falsche sein müssen, eine falsche im Falschen. Nicht nur Selbste, selbst Egoisten aller Länder folglich: vereinigt euch dagegen, vereinigt euch gegen die Vereinheitlichung.